Währenddessen in Schareck| Ein Kriegstagebuch

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Kai Kabelmacher
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Währenddessen in Schareck| Ein Kriegstagebuch

Beitrag von Kai Kabelmacher »

Wieder und wieder blickt Hans Kraushaar in den morgendlichen Himmel.
Gebannt und bestürzt betrachtet er den gleißenden Schweif eines Kometen, der seit Wochen am Firmament zu sehen ist. Kraushaar weiß nicht, was dessen Erscheinen bedeutet. Nur dass es etwas Schreckliches sein muss, da ist er sich sicher.

Ende Dezember 5030. Längst ruht die Feldarbeit in dem Dörfchen Trutzbach am Ostrand Scharecks - einer Ansammlung von Häusern in einer gewellten Ebene zwischen Höhenzügen, umgeben von Ackern und Gehölz, beherrscht von einer Wehrkirche. Hier ist Kraushaar 5007 zur Welt gekommen. Hier hat er beim Priester Lesen und Schreiben geübt, den Codex Veritas studiert, vom Vater das Schustern gelernt und wie ein Feld bestellt wird.
Die Kraushaars sind Handwerker mit einem kleinen Hof. Keine wohlhabenden Vollbauern, aber besser dran als die Tagelöhner im Dorf, dank der eigenen Wirtschaft darf der Vater in der Gemeindeversammlung mitstimmen. Sie werden vermutlich ein oder zwei Pferde haben, Kühe, ein paar Schafe, die auf der Allmende grasen, der Gemeinschaftsweide.
Als einziges Kind der Familie darf Hans die Schule besuchen. Vielleicht, weil er der älteste Sohn ist oder weil er als gewitzt auffällt. Dennoch: Kaum ist er 14 Jahre alt, holt der Vater ihn zu sich in die Werkstatt. Schulwissen verdient kein Brot.
Fromm und bescheiden sind die Menschen in Trutzbach und treue Untertanen ihres Grundherrn - dem einen Tagesmarsch entfernten Herzogssitz Schareck Stadt. An Herzog Edo und an den örtlichen Priester entrichten sie ihre Abgaben: pro Hofstelle zwei oder drei Hühner im Jahr, dazu Linsen, Obst, Eier, Dinkel und Hafer, je nach Größe des Hofes. Zudem fordert der König seinen Anteil von der Ernte, sodass oft kaum die Hälfte bleibt.
Dafür halten Schareck Stadt und das Reich die Ordnung aufrecht, eine schützende Hand über Familien wie die Kraushaars. Begleitet der Priester sie durch Messe, Hochzeit und Abschied.
Dem Recht nach sind die Dorfleute Leibeigene. Doch wer will, kann sich loskaufen und fortgehen. Nur wozu? Scharecks Bauern empfinden sich freier im Glauben als die "Nuntiisten" drüben in Crysofas; und anders als die Tornumer Nachbarn müssen sie keinem Herzog Frondienste leisten.
Die Welt ist gut, so wie sie ist. Ein verlässlicher, wohlgeordneter Kreislauf. Der Juli heißt "Heumonat", der Oktober "Weinmonat", der Januar "Isidoriamonat", Jahr um Jahr. Doch nun zieht dieser feurige Schweif über den Himmel.
Die Priester lassen in ihren Predigten keinen Zweifel: Ultor droht der sündigen Menschheit mit seinem Schwerte. Mit fürchterlichen Hieben.
Und geben nicht reisende Kaufleute und fliegende Blätter Kunde von einem Aufruhr im fernen Tulderon?
Auch Hans Kraushaar hört die Mahnungen. Und fasst einen Beschluss: Er wird all das, was kommt, aufschreiben, um es den Nachfahren zu überliefern.

Bereits 5031 kommt der Krieg ins Scharecker Land, als dort ein großes Heer aufzieht. Es sind die Truppen des neuen Herzogs Walter von Meeringen; sie lagern bei Freiberg und werfen dort Schanzen und Bastionen auf. Nur ein kleines Stück weiter marschiert im Jahr darauf eine noch größere royalisten Armee auf.
Scharecks Untertanen versorgen die verbliebenen rufustreuen Truppen mit allem was von Speis und Trank gewesen ist, so Kraushaar - der selbst eine solche Fuhre in das befestigte Lager mitmacht. Dort sieht er zum ersten Mal Tausende jener Männer, die zum Schrecken seines Lebens werden: Landsknechte.
Zumeist sind es Abenteurer, Entwurzelte, Schuldenmacher, die sich für ein Handgeld und Sold haben anwerben lassen. Die das Waffenhandwerk stolz und hochfahrend gemacht hat. Deren grelle Kleidung sie von den einfachen Leuten abhebt, die sauf- und rauflüstern sind, den Frauen zugetan, über die Moral der sittsamen Landbewohner lachen.
Kraushaar mustert sie vermutlich alle: das Fußvolk, das Piken von mitunter bis zu fünf Meter Länge führt. Die Musketiere mit ihren kompliziert zu bedienenden Luntengewehren, die von Stützgabeln abgeschossen werden. Die schwer gepanzerten Reiter mit Pistole und Degen. Kanoniere mit lang gezogenen Feldschlangen und Vorräten tödlicher Eisenkugeln. Eine ausgeklügelte, mühsam disziplinierte Kriegsmaschine.
Mit einigen Knechten, berichtet Kraushaar, habe er "Wein gezecht um ein wohlfeil Geld". Vielleicht fühlt er sich sicher inmitten des Kriegsvolks, weil der Haufen aus seiner Sicht dem rechten Herrscher dient.
Kurz darauf ziehen beide Heere ab, Scharecks Rebellen und die Armee der Königin. Ohne dass es zu einem Kampf gekommen ist.
In den Wochen und Monaten nach der Zecherei im Lager bei Freiberg wundert Hans Kraushaar sich immer häufiger über die Münzen, die er als Schuster von seinen Kunden erhält. Er wiegt sie in der Hand, beschaut sie. Mit jedem Anfassen verlieren die Kronen etwas von ihrem schönen Silberglanz, werden auf einmal rötlich, billiges Kupfer tritt hervor. Die rüstenden Fürsten und Städte, die nun viel Geld für Waffen und Truppen ausgeben müssen, strecken ihren Silberschatz, indem sie unreine Münzen prägen.
Als die Menschen es merken, will niemand mehr das "schlimm Geld" nehmen, wie Kraushaar klagt. Und wer es nimmt, fordert Käufern den mehrfachen Preis für Getreide, Eier, Salz und Fleisch, für Tuch und Schuhe ab.Die Teuerung zwingt schon bald immer mehr Menschen zum Betteln oder auf Wanderschaft. Andere aber werden fett: all jene, die das Spiel früh durchschauen, mit leichter und falscher Münze altes Geld aufkaufen, Häuser erwerben, Schulden zurückzahlen.Hans Kraushaar indes hat einen ehrlichen Beruf und kann für eine geflickte Sohle, ein Paar Mannsschuh oder Weiberstiefel mehr verlangen. Es reicht, um zu leben - und zuweilen eine auf Papier gedruckte Flugschrift zu kaufen oder eine der eben aufkommenden Zeitungen, wie zum Beispiel die Akut.
Meist klingt Sorge um die Sache durch, Misstrauen gegen die fromme, der heiligen Ultorianischen Kirche zugewandte Königin Elisabeth.
Im April 5031 fallen Truppen der Königin in das Scharecker Land ein, fast 2000 Mann. Der Krieg, der lange kaum mehr als ein fernes Wetterleuchten war, dringt nun vor bis in die direkte Nachbarschaft Trutzbachs.
Hans Kraushaar beschränkt sich in seinen Notizen auf wenige karge Worte über die plündernden Landsknechte "welche den Leuten große Plagen und Herzeleid angetan und allerlei Mutwillen getrieben, die Männer übel geschlagen und viel Weibsbilder geschwächt", also vergewaltigt haben. Neun Tage, dann ziehen die Soldaten weiter.
Zur Erntezeit jedoch kehren einige Hundert Reiter zurück. Und Kraushaar gerät noch einmal näher ans Geschehen: Er muss zum Landesausschuss einrücken, einer Miliz, die Schareck aus seinen Untertanen aufstellt, um sich gegen die royale Soldateska zu wehren. Knapp zwei Wochen liegt er in bedrohten Dörfern, unruhig, voll Furcht. Ganz dicht rückt sein Trupp an das von den Königlichen besetzte Örtchen Rammingen. Am
20. August 5031 müssen Hans Kraushaar und seine Kameraden mit ansehen, wie der Feind Rammingen anzündet. Die ganze Nacht über starren sie in den Schein der Flammen. Atmen den Brandgeruch ein, mögen die Schreie der Sterbenden hören. Bis zu 50 Häuser brennen nieder, der halbe Ort.
Dann reiten von Meeringens Truppen fort.

Eine unbehagliche Ruhe legt sich über das Scharecker Land. Einen Erntesommer lang hausen die feindlichen Soldaten anderswo. Obwohl der Krieg jederzeit zurückkehren kann, bringt Hans Kraushaar durch Einkünfte, Sparen und wohl auch familiäre Unterstützung das Geld für den Kauf eines Häuschens im benachbarten Mörz auf, samt Feld, Stall und Garten. Er heiratet die sechs Jahre jüngere Anna Buntz aus der Nachbarschaft. Wird ein Mann mit Familie, Besitz und Stimmrecht in der Gemeinde. Ende August 5032 bringt seine Frau Anna ein Kind zur Welt, eine Tochter.
Anfang 5033 ruft der Magistrat zu Mittental seine Untertanen auf die Amtshäuser: Sie sollen die an die Miliz ausgeteilten Wehren abliefern.
Denn es zeichnet sich ab, dass die royalen Soldaten zurückkehren werden, diesmal für länger, und die Ratsherren wollen keine Scharmützel der Einheimischen mit den Truppen aus Crysofas riskieren.
Einquartierungen stehen bevor, die Aufnahme fremder Truppen in Privathäusern. Daher bietet der Mittentaler Magistrat den Bauern in der Umgebung an, all das in der sicheren Stadt zu verwahren, was einer ,,Liebs und Guts" habe.
Auch Hans Kraushaar schafft seine Wertsachen fort. Und wartet ab "in großen Ängsten, Schrecken und Sorgen".
Dann kommen sie: Tausende Soldaten aus Crysofas und königliche Söldner, Trossknechte, Marketenderinnen - "Huren und mächtig viel Pferde", entsetzt sich Kraushaar, "alles Pöbelgesinde". Jedes Dorf muss eine Gruppe aufnehmen, Mörz einen Rittmeister mit 37 Mann.
Das Kriegsvolk fordert Bier, Wein, Fleisch und Speck und "allerlei köstliche Sachen". Was die Bauern nicht haben, müssen sie teuer kaufen und den Fremden dann überlassen. Mancher Wirt wird verprügelt, sein Vieh gemetzgert. Über das Verbot ihrer Offiziere, von den Leuten mehr zu verlangen als Salz, Feuerholz und Talg für die Lampen sowie Heu und Stroh, lachen die Landsknechte nur. Noch ärger treiben sie es auf den Straßen, überfallen Wanderer. Kaum ein Bewohner verlässt noch ohne Not das Dorf - bis die Kommandeure Ordnung schaffen, drei Marodeure am Galgen hängen sowie zehn Offizieren und einfachen Soldaten im Regimentsquartier den Kopf abschlagen lassen. Zur Abschreckung. Denn die Armeeführer haben kein Interesse daran, die Bauern zu ruinieren.Auf die Dauer können nur die Landleute die Truppe erhalten, ausreichend Nahrung produzieren und Steuern und Zwangsabgaben aufbringen.
Kraushaar, zäh und geschickt, kommt offenbar ohne großen Schaden davon, kann sogar zwei Ackerstücke dazukaufen. Doch schon bald ziehen neue Regimenter durch das Land, auch in Kraushaars Nachbarschaft häufen sich die Überfälle, belagern die Königlichen gar für kurze Zeit Mittental. Immer wieder wird Kraushaar zur Miliz einberufen - und muss in dieser Zeit die Familie sich selbst und Ultors Gnade überlassen. Jedes Mal kehrt er mit bangem Herzen heim.
Mindestens einmal findet er Mörz geplündert vor, sogar die Kirche aufgebrochen von Soldaten in von Meeringens Diensten. Erleichtert begrüßt er Anna und die Kinder, sie sind wohlauf.Seine Einträge im Büchlein lassen offen, ob sie rechtzeitig fliehen konnten oder mit Glück ungeschoren blieben. Oder ihnen doch etwas geschah, wovon Kraushaar nicht reden mag.
Im Sommer 5033 nähert sich erneut eine Armee Mörz. Diesmal bleiben die Bauern ruhig Es sind Truppen der Rebellen.
Anders als sonst bringt niemand sich oder seinen Besitz an versteckte oder befestigte Orte. Ein schrecklicher Fehler. Denn die Truppe ist auf dem Rückzug, ausgehungert, abgerissen, fast ohne Pferde. Und so machen die angeheuerten sythischen Landsknechte keinen Unterschied mehr zwischen
Freund und Feind. Als Kraushaar und seine Nachbarn dies schließlich erkennen, treiben sie das Vieh in den ummauerten Kirchhof, bergen ihr Gerät im Gotteshaus. Verschanzen sich hinter der festen Wehrmauer der Kirche.
Zwei Tage lang können sie die Reitertrupps mit Gewehren, Spießen und Dreschflegeln zurückschlagen. Dann aber stecken die Soldaten mehren Häuser im Dorf an, brennen Scheunen ab. Um nicht auch noch obdachlos zu werden, geben die Mörzer auf und verlieren praktisch alles, was sie noch haben: Vorräte, Kleider, kaum ein Pferd, Rind oder Schaf, das die Sythen nicht wegführen.
Wie so oft spricht Kraushaar im Tagebuch seine Verzweiflung nicht aus, aber sie muss groß sein. Wer kann ohne Zugtiere die bevorstehende Ernte einbringen?
Und doch ist es noch ein vergleichsweise gnädiger Ausgang: Denn andernorts, so notiert er, werden die Leute übel geprügelt, "etliche erschossen, erstochen und zu Tod geschlagen".
Ähnlich geht es seit Jahren in vielen Landstrichen des Herzogtums zu. Es gibt Dörfer, da findet sich kein einziges Huhn, kein Hahn mehr.
Wo sie können, leisten die Bauern Gegenwehr oder erkaufen sich den Schutz der einen Söldnertruppe gegen die andere. Doch allzu oft reicht das nicht, und die Ausgeplünderten müssen anderswo das Nötigste suchen. In den Städten und Marktflecken gibt es oft noch Getreide. Denn die Söldner verzehren nicht alles selbst, sondern machen einen Teil ihrer Beute zu Geld.
Also ziehen die Hungernden los und kaufen mit den letzten Münzen Korn - nicht selten ihr eigenes. Und werden zuweilen erneut überfallen, verlieren das Wiedergewonnene abermals an Bewaffnete, und Schuhe, Hemden, Karren noch dazu. Bald herrscht vielerorts der nackte Hunger. Die verzweifelten Menschen essen Abfälle, kochen Disteln und Eicheln. Sie schlachten Hunde und Katzen, machen Jagd auf Ratten und Mäuse. Viele sterben weit vor ihrer Zeit.
Am 10. September 5033 unterliegen die Rebellen und ihre Verbündeten einer royalen Streitmacht bei Nördlingen, nur 50 Kilometer von Mörz entfernt. Noch am selben Tag erreichen Berittene, die dem Gemetzel entronnen sind, das Dorf. Die Bauern ahnen Mord und Brand voraus, durch fliehende Sythen oder die Sieger, lassen ihre letzte Habe zurück und machen sich eilends auf den Weg nach Mittental: „Wer laufen kann, der läuft."
Auch Kraushaar flieht mit Anna, ihren inzwischen zwei kleinen Kindern und dem Säugling Bartholome. Doch als sie am Abend vor die Mauern Mittentals gelangen, sind die Tore bereits verschlossen. Gemeinsam mit Tausenden anderen muss die Familie auf freiem Feld kampieren, voll zagender Furcht vor dem Kriegsvolk in ihrem Rücken. Erst am nächsten Morgen gewährt die Stadt Einlass.
In den folgenden Tagen brandschatzen die Royalisten Teile Scharecks, massakrieren Hunderte. Umgekehrt reiten Mittentaler Milizen hinaus, greifen kleinere Abteilungen von Meeringens an; ein Trupp wirft acht Gefangene und zwei mit ihnen aufgegriffene Frauen in eine naheliegende Furt.
Dennoch wagt sich Kraushaars Familie kurz darauf noch einmal hinaus. Sie riskiert alles, um im verwüsteten Mörz aufzuklauben, was die Plünderer von der Ernte gelassen haben. Und um zu säen. Wie sonst sollen sie durch den Winter kommen, das nächste Jahr?
Sie zahlen dafür einen hohen Preis: Bartholome, der Säugling, übersteht die Strapazen nicht. Ganze vier Wochen hat er gelebt. Und als neuerlich Landsknecht nahen, sie weichen müssen, stirbt auf der nächtlichen Flucht auch sein einjährige Bruder Thomas.
Beide Male setzt Hans Kraushaar hinter die triste Todesnotiz den Satz: "Ultor der Allmächtige wolle ihm geben am jüngsten Tag eine gerechte Auferstehung und Friede seiner Seele."

Dann führt er die Familie für den Winter zurück in die überfüllte Stadt. Dort sind die Flüchtlinge keinem willkommen. Quartier, Brot, alles ist knapp. Bald lässt bittere Kälte die Flüsse und Bäche zufrieren. Die Armen lagern im Freien, auf der eisigen Straße, Glücklichere wohnen mit Verwandten und Fremden auf engstem Raum. "Da ist ein Jammer und Not", schreibt Kraushaar auf, da ist die Teuerung und der Hunger eingebrochen."
Und dann kommt es zur nächsten Katastrophe: In Mittental bricht die Pest aus. Unter den mitsamt ihrem Vieh zusammen gedrängten, geschwächten Menschen breitet sie sich aus wie ein Brand. Hunderte, dann Tausende erkranken und sterben. In den stinkenden Gassen liegen Tote,
die dort zugrunde gegangen sind oder von ihren Angehörigen abgelegt wurden. Leichenkarren schaffen sie vor die Mauern - die Räder mit Filz beschlagen, um die verängstigt Menschen nicht durch das fortwährend Rattern noch mehr zu erschrecken. ErsteHäuser bleiben ganz verschlossen, nur Medici und Geistliche dürfen hinein. Auch Kraushaars Stiefmutter und drei seiner Schwestern finden statt der erhofften Sicherheit den Tod.
Anfang Januar flieht die Familie aus der fiebernden Stadt zurück aufs Land - und entkommt dort nur mit Not umherstreifenden Reitern, muss sich im Wald verstecken, flieht erneut in das verseuchte Mittental. Wie Korn im Sturm neigen sich die Bauern hierhin, dann dorthin. Irren umher zwischen den Todeszonen.
Auch für Kraushaar und die Seinen werden die Zeiten bitterer. 5034 muss er den Hof in Mörz versetzen, die Familie zieht zurück nach Trutzbach.
Viele der früheren Nachbarn und Freunde sind tot. Ihre Häuser liegen verwüstet oder verlassen in Wind und Regen, bis sie von selbst ineinander fallen.
Auf den verödeten Feldern gedeihen nun vor allem Disteln; Waldstücke wuchern auf Acker aus, wachsen über dem Weg ins Nachbardorf zusammen.
Zwar verteilt der Magistrat von Mittental an die Überlebenden Hafer und Gerste zur Aussaat. Doch kaum einer der Bauern hat noch ein Pferd oder Zugochsen. Statt ihre brachliegenden Felder zu bestellen, sind die Menschen unentwegt auf der Flucht: in den Wald, die Stadt, über die Landesgrenzen.
Immer wieder muss Kraushaar sich und die Familie nach Mittental retten, bei Nacht entlang brennender Weiler, in Regen, Schnee und Kälte, abseits der Wege durch Hecken und Unterholz - allein 5034 ein halbes Dutzend Mal.
In Trutzbach tritt zudem eine weitere Plage auf: Wölfe bedrohen Tiere und Menschen. Vor dem Krieg waren sie selten, nun aber, da es weniger Menschen gibt, vermehren sie sich zu starken Rudeln und reißen das nachgezüchtete Vieh, holen die Katzen und Hunde aus den Dörfern. Es ist ein Kampf ums Überleben: Im Winter 5034 wird für die Trutzbacher Bauern die Jagd auf die Raubtiere "fast unsere größte Arbeit".
Die Ordnung ist nun mancherorts fast völlig aufgelöst und zerbrochen. Wo Priester fehlen, verfällt die Kirchenzucht, bleiben uneheliche Schwangerschaften straflos, Trauerzeiten unbeachtet. In belagerten Orten trinken die Menschen vor Durst zuweilen ihren eigenen Urin, ja es heißt, manche äßen in ihrer Verzweiflung das Fleisch der Toten.

Die Heere aus zusammengekauften Söldnern jagen einander Landstriche ab und verlassen sie wieder; weil die Soldzahlungen oft ausbleiben, halten die Offiziere ihre Truppen immer seltener dazu an, aus klugem Eigennutz auch den Bauern einen Rest, die Hoffnung auf ein Morgen zu lassen.
Die Landsknechte holen sich jetzt nicht mehr nur die Obsternte von den Bäumen, sondern schlagen ganze Gärten ab. Sie raufen junge Erbsen aus den Beeten, schneiden das Korn von den Feldern und dreschen es, sodass weder Vorräte noch Aussaat für neue Ernten bleiben.
Von den Dächern stehlen die Kämpfer das Stroh, aus den Zäunen die Pfähle, sie verfeuern die letzten Möbel und Türen. Es ist, als sollte nichts bleiben, kein Halm, kein Herd. Keine Zukunft. Nichts - außer dem Krieg.
Befestigen die Armeen eine Stellung, müssen die einfachen Leute dabei mithelfen, Schanzen aufwerfen, Gräben ziehen, Sperren bauen, über den Tag und durch die Nacht. Stehen Häuser und Katen im Schussfeld oder könnten sie einem Feind nützen, werden sie abgerissen.
Wo Offiziere Mühlen beschlagnahmen, mag das Landvolk etwas Korn retten, kann es aber nicht mahlen; mancher behilft sich notdürftig mit selbst gebauten Handapparaten aus Schleifsteinen.
In Feindesland haben die Landsknechte von Beginn an elende Gräuel begangen. Nun aber verrohen sie völlig. Machen Jagd auf Bauern, töten sie für ein paar Laibe Brot. Zwingen ihren Opfern den "Sythentrunk" aus kochendem Wasser oder Jauche auf. Morden Kinder, vergewaltigen Frauen, schneiden ihnen Nasen und Brüste ab. Manche Männer tragen dutzende abgetrennte Ohren.
Kaum zu unterscheiden, wo die Folter versteckte Wertsachen herauspressen soll und wo die Soldaten rohen Sadismus ausleben. Oft genug sind sie selbst zu kranken, ausgemergelten, von wenigen Lumpen bedeckten Elendsgestalten herabgekommen. Zu Hoffnungslosen. Bisweilen steigern sich Truppen in einen Blutrausch, machen besinnungslos nieder, wen sie zu fassen bekommen.
Für die Bauern ist inzwischen jeder Soldat ein Feind - egal welcher Partei er dient. Zuweilen tun die Geschundenen es ihren Peinigern nach, ergreifen Landsknechte und töten sie. Andere schließen sich zu Räuberbanden zusammen und plagen ihre Genossen kaum weniger schlimm als das Kriegsvolk.
Die Bewohner der betroffenen Landstriche leben in ständiger Furcht, schrecken beim leisesten Klappern in der Nacht hoch, verbergen sich wie wilde Tiere in Wäldern, Gebüschen und Hecken. Viele Dörfer werden fast Jahr um Jahr heimgesucht; klingen die Kämpfe ab, müssen sie den Soldaten Quartier geben. Zudem Kriegssteuern und erpresste Abgaben zahlen - sofern sie überhaupt noch etwas abzuliefern haben.
Derweil sind die größten Todbringer nicht Schändung und Mord, sondern die Seuchen: Sie kommen mit den Armeen und den Flüchtlingen in die Städte und Dörfer, grassieren in den engen, überfüllten Vierteln und unter dem in Schmutz und Knappheit darbenden Landvolk - bis sich auf manchem Friedhof keine neuen Gräber mehr anlegen lassen, weil der Spaten an jedem Fleck auf halb verweste Leichen stößt.
Schließlich zieht sich ein Streifen der Verwüstung von Zarpen im Südwesten über Schareck Stadt bis an die Klanter Grenze. In diesen Regionen ist vermutlich mehr als die Hälfte der Einwohner umgekommen; weniger hart getroffene Gebiete beklagen wohl immer noch jeden Dritten. Weitgehend verschont bleiben lediglich der Nordwesten und das Grenzgebiet zu Warall.

Den Aklonern ist es der Krieg aller Kriege.

Es ist die Apokalypse. Und sie währt fort, selbst nachdem die Flugblätter endlich von Friedensgesprächen im fernen Camberion künden.
Bis jetzt hat der Bürgerkrieg zwei Drittel des Viehbestandes vernichtet, Dörfer und Städte in Schutthaufen verwandelt, Kunstwerke zerstört oder außer Landes geführt, Wirtschaftskreisläufe abgewürgt.
Die Gewalt der Landsknechte indes dauert selbst nach der Ankündigung des möglichen Friedens an. Am 22. November 5035 muss Hans Kraushaar vor anrückenden Truppen aus Crysofas erneut nach Mittental fliehen, zum wohl nunmehr 16. Mal.
Und erlebt dort, dass am nächsten Morgen alle Glocken der Stadt läuten. Während draußen noch die Söldner wühten, feiert Mittental den nahenden Frieden. In überfüllten Kirchen hören die Menschen Festpredigten, sprechen Dankgebete und stimmen Lobgesänge an. Es ist ein frohes (aber kein übermütiges) Fest, aus dem vor allem Erleichterung spricht: das traurige Glück, die Hölle wohl überstanden zu haben.
Auch für Kraushaar und seine Familie wird es hoffentlich die letzte Flucht sein. vier Kinder sind dem Paar während des Krieges geboren worden. Eins hat überlebt.
"In summa ist es ein so jämmerlicher Handel gewesen, dass sich einem Stein sollt erbarmt haben, geschweigen ein menschliches Herz", schreibt Kraushaar dem die letzten fünf Jahren aus Plünderung, Hunger, Flucht und Tod bestanden hat: "Darum können wir Ultor nicht genug loben und Preisen für den erhofften Frieden".
Durch Trutzbach kommen immer noch die Vertriebenen, die Geflohenen und die Abenteurer, die mit den Armeen gezogen sind, und betteln um ein Stück Brot. Zuweilen klopfen binnen einer einzigen Stunde mehr als 20 Bedürftige an die Türen.
Mit unruhiger Hoffnung warten die Bürger Scharecks auf die Entscheidungen die Anfang kommenden Jahres in Ilin von den Kriegsparteien getroffen werden...
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